Verfassungsordnung

0.1.Ständische Verhältnisse und Einzugsbereich

In der Steuerliste für den Gemeinen Pfennig finden sich 1496 (neben dem Dekan) zehn Kanoniker verzeichnet, die sämtlich -zumindest lassen ihre Namen diesen Schluss zu- bürgerlicher Herkunft waren. Wenn von bürgerlicher Herkunft die Rede ist, ist darunter die Mittel- und Oberschicht der Stadt Worms zu begreifen.
Die Quellen weisen aus, dass auch illegitim Geborene nach Erteilung einer entsprechenden Dispens im Liebfrauenstift ein Kanonikat erhalten konnte, wodurch sich für sie ein sozialer Aufstieg vollzog. Der Übernahme eines Kanonikates ging eine zwei Jahre dauernde Anwärterzeit voraus. Der Anwärter bezog in dieser Zeit kein Einkommen aus der Pfründe. Danach folgte das Residenzjahr. Die Aufnahmegebühr betrug zwei rheinische Goldgulden. Seit 1448 wurden Kanonikate, die in den Monaten Januar, März, Mai, Juli, September und November vakant wurden gemäß dem Wiener Konkordat nach päpstlicher Provision vergeben. Zahlreiche Kanoniker des Stiftes erhielten auf diese Weise ihre Präbende. In den Statuten des Jahres 1521 wurde der Empfang der Priesterweihe  für die Erlangung eines Kanonikates vorgeschrieben, da die Kanoniker auch die Funktion der Altaristen wahrnahmen. Streng bestanden wurde auch auf der Einhaltung der Residenzpflicht.
Die Pfründen der Chorherren waren insgesamt gering bemessen. Es kam dadurch zu Mehrfachbepfründungen, was zu engen Verbindungen mit den anderen Wormser Stiften führte. Die Hinwendung der Stadt zur Reformation (1521/27) wirkte sich auch auf die soziale und territoriale Rekrutierung der Stiftsherren aus.

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0.2.Dignitäten und Ämter

Zwar sah die Gründungsurkunde die Dignitäten des Dekans, des Kantors und des Kustos vor, doch konnte aus finanziellen Gründen nur die Dignität des Dekans auch tatsächlich besetzt werden. Bei der Stiftsgründung verzichtete der Dompropst förmlich auf das Recht der Besetzung; im Gegenzug wurde das Amt des Dompropstes mit dem eines Stiftspropstes des Liebfrauenstiftes dauerhaft verbunden. Damit wurde eine enge Verbindung zwischen dem Domkapitel und dem Kollegiatstift geschaffen. Dem Dompropst stand das Präsentationsrecht für alle vakanten Kanonikate und Präbenden zu. Damit hatte der die Kontrolle über die Personalpolitik des Stiftes. Die Urkunde von 1298 sah vor, dass hinsichtlich der Besetzung der Diginitäten zwar ein Wahlrecht des Kapitels bestehen sollte, jedoch die Bestätigung des Propstes einzuholen war.
Ebenso verzichtete der Propst auf die Besetzung der Amanduskapelle (4.11.1298). Zehn Jahre später, 1308, verzichtete Propst Heinrich von Dhaun auf sein recht und übertrug es auf Dekan und Kapitel des Stiftes (Incorporation der Kapelle in das Liebfrauenstift).
Einblick in die innerer Verfassung und die Pflichten der einzelnen Amtsträger geben besonders für die Zeit der Reformation die aus dem Jahr 1521 datierenden Statuten.
Dem Dekan standen keine speziellen Einkünfte zu, doch bezog er „doppelte Präsenz“, d.h. doppelt so viel Einkommen aus der Anwesenheit bei seinen Diensten als die übrigen Kanoniker. Er war primus inter pares. In geraden Monaten geschah gemäß dem Wiener Konkordat (1448) die Amtsbesetzung durch Wahl durch das Kapitels, in ungeraden Monaten durch päpstliche Provision , wobei das Kapitel das Recht hatte, ungeeignete Kandidaten abzuweisen.
Dem Dekan oblag die Leitung des Stiftes und dessen Vertretung nach außen. Auf Präsenzgebühren, die ihm eventuell (durch Mehrfachbepfründung) aus anderen Stiften zuflossen, hatte er Verzicht zu leisten. Faktisch verlieh er die Kanonikate. Seine rechte durfte er nicht willkürlich erweitern. Zwar war er siegelführend, war aber bei den Rechtsakten an die Zustimmung des Kapitels gebunden.

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0.3.Zahl der Mitglieder

In der Gründungsurkunde werden zwölf Kanoniker erwähnt.
Zumindest in der Anfangsphase konnten nicht alle Pfründen entsprechend werden, da es an finanziellen Mitteln mangelte. Zunächst wurden nur sechs Priester zum Stundengebet verpflichtet.
In der Steuerliste für den Gemeinen Pfennig finden sich 1496 (neben dem Dekan) zehn Kanoniker verzeichnet, Ein weiterer war noch nicht in vollem Genuss seiner Pfründe.
4-6 Mark Silber betrug um 1496 das Jahreseinkommen eines Kanonikers. Damit im unteren bis mittleren Bereich. (siehe Keilmann, Paulusstift). Allerdings gehörten die Mitglieder des Liebfrauenstiftes 1496 alle der obersten Steuerklasse an. Die Einkünfte, die zu dieser Einstufung führten, stammten allerdings nicht alle aus den Einnahmen ihrer Pfründen am Liebfrauenstift, sondern resultierten aus Mehrfachbepfründungen.
Zugangsvoraussetzung für die Aufnahme in das Liebfrauenstift war der Empfang der Priesterweihe, ein weiterer Hinweis auf die dezidiert geistliche Ausrichtung der Klerikergemeinschaft. Das Biennium, die zweijährige Studienzeit, hingegen wurde in den Statuten aus dem Jahr 1521 nicht gefordert. Im Liebfrauenstift befanden sich in dieser Zeit wohl keine graduierten Kanoniker, wie es sie in den anderen Stiften gab, deren Mitglieder auch mit kirchlichen (und zum teil auch weltlichen) Verwaltungsaufgaben betraut waren.
Bei einer Visitation im Jahre 1669 sind neben dem Dekan sechs Stiftsherren genannt. Auch 1718 sind nur sechs Kanoniker genannt. Es bestanden damals 11 Pfründen, die zwölfte Pfründe war dem Dekanat zugeschlagen worden. Vor allem in Krisenzeiten wurden aus finanziellen Gründen nicht immer sämtliche Kanonikate besetzt. Die Besetzung der Kanonikate richtete sich wohl auch nach dem jeweiligen Ertrag der Güter (s.u.). Für das Jahr 1773 liegen Angaben über die Einkünfte vor: ein Kanoniker bezog damals in der Hauptsache Naturalien (74 Malter Korn, 3 Malter Spelz, 4 Malter Gerste, 3 Malter Hafer), dazu kamen 100 fl. Geld und gelegentliche Zuwendungen.
Im Jahr 1783 wurden aus wirtschaftlichen Gründen Überlegungen angestellt, das Stift gänzlich aufzuheben und dem Domstift einzuverleiben. Die Präbenden sollten dort als „Semipräbenden“ bestehen. Der Plan wurde nie realisiert.
Nicht dem Stift zugehörig war der in den Statuten des Jahres 1521 erwähnte Praedicator (Prediger), doch hatte er bestimmte Pflichten wie die Stiftsherren zu übernehmen. Wie sie hatte er die Pflicht, im Immunitätsbezirk des Stiftes zu wohnen. In die Kapitelsangelegenheiten eingreifen durfte er nicht, durfte aber auch nicht verpflichtet werden, bestimmte (weiteres) Ämter zu übernehmen. Seine Aufgabe bestand darin, an Sonn- und Feiertagen dem Volk in der Landessprache zu predigen. Als Dauer der Predigt war eine Stunde angesetzt.
1496 bestanden im Liebfrauenstift 14 Vikarien.. In der Reihenfolge der Eide, die im Statutenbuch aus dem Jahr 1521 aufgeführt sind, rangieren sie vor den Altaristen. Ihnen oblagen gottesdienstliche Funktionen.
Es bestanden (außer der Plebanie) vier Altäre, an denen je ein Altarist beschäftigt war. Die Pfründen waren gering bemessen. Die Altaristen waren dem Kapitel gegenüber weisungsgebunden.
Der Pleban, d.h. der Pfarrer von St.Amandus, der 1521 nach den Altaristen genannt wurde,  hatte persönlich in seiner Pfarrei zu residieren.
1496 wird in der Steuerliste für den Gemeinen Pfennig bei den Angehörigen der geringsten Steuerklasse ein Rector scolarium. Schüler tauchen in der Liste allerdings nicht auf, was darauf schließen lässt, dass es sich bei ihnen um Knaben handelte, die jünger als 15 Jahre waren. Bei der Auflistung der Eide für das Stiftspersonal in den Statuten des Liebfrauenstiftes aus dem Jahr 1521 rangiert der rektor auf dem Platz vor dem Sakristan.
Als eigenes Amt im Stift wird das des Punctators genannt. Er hatte diejenigen aufzulisten, die beim Chordienst abwesend waren. Er gehörte dem Kapitel an. Eigens genannt ist auch das Amt des Archivars, wozu jeweils zwei Kapitelsmitglieder bestimmt wurden. Der Speichermeister hatte die Aufgabe, die abgelieferte Frucht im Speicher einzulagern und sie an die Stiftsmitglieder zu verteilen.
Aus den Statuten (1521) geht hervor, dass der Sakristan Laie war. Seine Aufgabe war, den Kirchenschatz, die Paramente sowie die Wachs-und Ölvorräte zu bewachen. Die Nächte hatte er daher, so die Statuten, in der Kirche zuzubringen. Im Immunitätsbezirk stand ihm (gemeinsam mit seiner Familie) ein Haus zu. Zu seinen weiteren Aufgaben gehörten die Zusammenrufung der Chorherren zum Kapitel sowie Botengänge.
Die Sorge für das Gnadenbild oblag zwei Laien ( Vgl. Bönnen, S.48).
Unter den Ämtern wurde nach der gängigen Literatur auch noch ein magister suspensionis genannt, der über den Kirchenschatz Aufsicht führte. Das Kirchenvermögen wurde durch den magister fabricae verwaltet. In seinen Untersuchungen nennt H.Schmitt daneben auch einen weltlichen Schaffner.

Die Kanoniker hatten allein geistliche Aufgaben. In der Verwaltung war nach den Erhebungen Keilmanns für die Zeit um 1500 keiner von ihnen tätig. Sie unterschieden sich damit von den Mitgliedern der innerstädtischen Stifte. Die Statuten des Jahres 1521 schärften den Kanonikern die Residenzpflicht ein: das Stift sollte ein geistliches Zentrum sein und bleiben.

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Empfohlene Zitierweise

Rommel, Martina: Worms - Liebfrauen. Verfassungsordnung. In: Klöster und Stifte in Rheinland-Pfalz, URL: <http:⁄⁄www.klosterlexikon-rlp.de//rheinhessen/worms-liebfrauen/verfassungsordnung.html> (Letzter Aufruf: 19.04.24)